Fortsetzung der Rede von Shimon Peres im Deutschen Bundestag

Meine Freunde, Vertreter des deutschen Volkes,

die Drohungen, unser Volk und unseren Staat zu zerstören, werden im  Schatten von Massenvernichtungswaffen ausgestoßen, die im Besitz irrationaler Menschen sind, die nicht zurechnungsfähig sind und die nicht die Wahrheit sprechen.

Um eine zweite Shoa zu verhindern, ist es an uns, unsere Kinder zu lehren, Menschenleben zu achten und Frieden mit anderen Ländern zu wahren. Die junge Generation muss lernen, jede einzelne Kultur, und die universellen Werte zu respektieren. Die Zehn Gebote müssen immer wieder neu gedruckt werden.

Lasst uns Licht ins Dunkel bringen; lasst uns Teleskope und Mikroskope auf die Geheimnisse der Wissenschaft richten, die dem menschlichen Körper und Geist Heilung bringen können. Wir benötigen Nahrung für die Hungrigen, Wasser für die Durstigen, Luft zum Atmen und Weisheit für die Menschheit. 

Mit dem Ende des Britischen Mandats rief David Ben-Gurion, der Wegbereiter der sich erneuernden Nation, den Staat Israel aus. Die Araber wiesen die UNO-Resolution zurück und ihre Armeen griffen Israel an. Und so griffen sieben arabische Heere Israel nur wenige Stunden nach seiner Unabhängigkeitserklärung an, um den noch kaum entstandenen Staat sofort wieder zu zerstören.

Wir standen ihnen alleine gegenüber. Wir hatten keine Verbündeten, und waren trotz allem die letzte Hoffnung des jüdischen Volkes auf Sicherheit. Hätten wir den Krieg verloren, wäre dies vielleicht das Ende unseres Volkes gewesen.

Die israelische Armee siegte in diesem aussichtslosen Kampf, in dem historische Gerechtigkeit und menschlicher Mut sich vereinten. In den Reihen der israelischen Streitkräfte kämpften bereits in diesem Krieg Überlebende der Shoa, die erst kurz zuvor die sichere Küste Israels erreicht hatten und sich schon während der Schlachten den anderen Soldaten anschlossen. Einige fielen an der Front.

Während Israel noch die Kriegswunden leckte, begann das kleine Land bereits, als erste Priorität, seine Tore den Überlebenden der Shoa und den vielen jüdischen Flüchtlinge aus arabischen Ländern zu öffnen. Alle anderen Tore blieben für sie  verschlossen.

Meine sehr verehrten Anwesenden,

wir erinnern uns noch gut, wie uns damals, als unsere Wunden noch bluteten, von unerwarteter Seite Hilfe angeboten wurde – nämlich vom neuen Deutschland.

Zwei historische Persönlichkeiten reichten sich über dem Abgrund die Hand:
Kanzler Konrad Adenauer, der Vater der demokratischen Bundesrepublik, und David Ben-Gurion, Gründer und erster Ministerpräsident des Staates Israel.

Am 27. September 1951 hielt Kanzler Adenauer eine Rede im Bundestag. Er sprach von der Verantwortung des deutschen Volkes für die Verbrechen des Dritten Reiches, seine Verantwortung dem jüdischen Volk gegenüber, und über die Bereitschaft seiner Regierung, die Juden für den Raub ihres Besitzes zu entschädigen und dem jungen Staat beim Aufbau unter die Arme zu greifen.

Der Entschluss der israelischen Regierung, mit der deutschen Regierung direkt zu verhandeln, führte zu einer noch nie dagewesenen Protestwelle unter den Juden in der Welt. Überlebende mit eintätowierten Todesnummern der Vernichtungslager  bewarfen das israelische Parlament mit Steinen, aber es gab auch solche, die Ben-Gurion unterstützten.

Doch Ben-Gurion bestand auf seinem Entschluss: Es gibt ein anderes Deutschland, mit dem wir über die Zukunft, und nicht nur über die Vergangenheit reden müssen. Schweren Herzens stimmte die Knesset zu. Die Reparationen aus Deutschland halfen Israel aus seiner Notlage und leisteten einen wesentlichen Beitrag zur schnellen Entwicklung des Landes.

Ich hatte damals, als junger Mann, die Ehre, Ben-Gurions Assistent und später im Verteidigungsministerium sein Stellvertreter zu werden. Ich lernte, dass das sich im Aufbau befindende Israel seine Kinder beschützen muss. Auch in diesem Fall zeigten die Deutschen Verständnis für uns und belieferten uns mit Ausrüstung zu unserer Verteidigung. Zwischen Deutschland und Israel hat sich seither eine einzigartige Freundschaft entwickelt.

Diese Freundschaft führt aber nicht dazu, dass wir die Shoa vergessen, sondern wir sind uns der Finsternis, die im Todestal der Vergangenheit herrschte, bewusst;  auch im Angesicht der gemeinsamen, klaren Entscheidung, unseren Blick nach vorne zu richten – zum Horizont der Hoffnung und in eine bessere Welt. Die Brücke über dem Abgrund wurde mit schmerzenden Händen und Schultern, die dem Gewicht der Erinnerung kaum standhielten, aufgebaut und sie steht auf starken, moralischen Grundfesten.

Unseren ermordeten Brüdern und Schwestern haben wir ein lebendiges Mahnmal errichtet: Mit den Pflügen, die eine Wüste in fruchtbare Plantagen umwandeln. Mit Labors, die neues Leben entdecken. Mit Waffen, die unsere Existenz sichern. Und mit einer kompromisslosen Demokratie. Wir waren und sind der Überzeugung, dass das neue Deutschland alles in seiner Macht Stehende tun wird, damit der jüdische Staat sich nie mehr alleine einer Gefahr ausgesetzt sehen muss. Mörderische und überhebliche Diktaturen sollen ihr böses Haupt nicht wieder erheben dürfen.

Ich danke Ihnen.

Von Konrad Adenauer, der mit David Ben-Gurion eine gemeinsame Sprache fand, bis zum Kniefall Willy Brandts im Andenken an die Helden des Warschauer Ghettos. Und Sie, Abgeordnete des Bundestages und des Bundesrates, von Helmut Schmidt bis Helmut Kohl, und andere Führungspersönlichkeiten, Sie haben die Grundmauern gefestigt und dem Bau noch weitere Steine der Freundschaft hinzugefügt.

Gesellschaftspolitische Institutionen, Wirtschaftsorganisationen, Kulturzentren, Intellektuelle, Entscheidungsträger und Praktiker - sie alle haben dieses außergewöhnliche Freundschaftsgewebe bereichert.

Danke und nochmals vielen Dank.

Sie, Herr Bundespräsident Horst Köhler, sagten in der Knesset in Jerusalem „Die Verantwortung für die Shoa ist Teil der deutschen Identität“. Wir rechnen Ihnen das hoch an.

Und Sie, Frau Bundeskanzlerin Angela Merkel, haben die Herzen unseres Volkes mit Ihrer Aufrichtigkeit und Wärme erobert. Sie erklärten vor den beiden Kammern des US-amerikanischen Kongresses: „Ein Angriff auf Israel kommt einem Angriff auf Deutschland gleich“. Diese bewegenden Worte unverbrüchlicher Unterstützung werden wir niemals vergessen.

Meine sehr verehrten Anwesenden, meine Damen und Herren,

beinahe 62 Jahre sind seit der Gründung des Staates Israel vergangen. Wir haben die Prüfung von neun Kriegen überstanden. Wir haben Friedensabkommen mit Ägypten und Jordanien geschlossen.

Den Ländern, mit denen wir in Frieden leben, haben wir alle Gebiete, die uns während der Kriege in die Hände fielen, zurückgegeben. Jetzt sind wir ein kleines Land mit wenigen Rohstoffen. Unsere Erde ist sehr störrisch. Und dennoch ist uns die Entwicklung einer Landwirtschaft gelungen, die zu den weltbesten zählt. Statt der Rohstoffe haben wir technologisches und wissenschaftliches Know-How, das uns an die Spitze der wissenschaftlichen Forschung katapultiert hat und die Größe unseres Landes kompensiert.

Unser Volk kam aus allen Ecken der Diaspora. Heute befindet sich die Mehrheit der Juden in Israel. Wir sind zu unserer Sprache zurückgekehrt. Wir sind das einzige Land in unserer Region, dessen Kinder sich in derselben antiken Sprache wie ihre Vorfahren vor über 3000 Jahren unterhalten – in Hebräisch, der Sprache des Alten Testaments.

Die jüdische Geschichte verläuft weiterhin auf zwei parallelen Achsen:
Auf der einen Seite
die ethische, die bereits in den Zehn Geboten festgehalten ist, diesem Dokument, das vor ungefähr 3500 Jahren niedergeschrieben wurde und seither nicht mehr redigiert werden musste. Es gehört zum Fundament der westlichen Kultur.
Und andererseits die wissenschaftliche Achse, deren Ziel die Ergründung der Geheimnisse ist, die dem menschlichen Auge bisher verborgen blieben, und die unser Leben zu ändern vermögen.

Israel ist ein jüdischer und demokratischer Staat, in dem rund 1,5 Millionen gleichberechtigte arabische Bürger leben. Wir werden es nicht zulassen, dass jemand wegen seiner Nationalität oder Religion diskriminiert wird.

Wir haben die Weltwirtschaftskrise überwunden und befinden uns wieder im Wachstum. Unsere Kultur ist gleichermaßen modern wie traditionell. Die israelische Demokratie ist lebendig. Bei uns gibt es keine Flauten, und selbst in Kriegszeiten bleibt diese Demokratie bestehen.

Unsere Siege haben jedoch den Gefahren kein Ende gesetzt. Es gelüstet uns nicht nach Gebieten, die uns nicht gehören. Und wir hegen auch kein Interesse, ein anderes Volk zu beherrschen, dürfen aber unsere Augen trotz allem nicht verschließen. Unser nationales Begehren ist klar und eindeutig: Frieden mit unseren Nachbarn zu erreichen.

Meine Damen und Herren,

Sie wissen, dass Israel dem Grundsatz „zwei Staaten für zwei Völker“ zustimmt. Wir haben im Krieg einen Preis bezahlt, und zögerten nicht, auch für den Frieden einen Preis zu zahlen.

Auch jetzt sind wir bereit, auf Gebiete zu verzichten, um mit den Palästinensern Frieden zu schließen. Sie sollen einen eigenen Staat errichten, einen unabhängigen, gedeihenden und friedliebenden Staat.

Ebenso wie unsere Nachbarn identifizieren auch wir uns mit den Millionen Iranern, die gegen die Diktatur und Gewalt rebellieren. Genau wie sie lehnen wir ein fanatisches Regime ab, das die Charta der Vereinten Nationen missachtet. Ein Regime, das mit Zerstörung droht und Atomkraftwerke und Nuklearraketen besitzt, mit denen es sein eigenes Land wie auch andere Länder terrorisiert. Ein solches Regime ist eine Gefahr für die ganze Welt.

Wir möchten von der Europäischen Gemeinschaft lernen. Sie, die den Kontinent von tausend Jahren Krieg und Not befreit und jungen Menschen ermöglicht hat, den Hass ihrer Vorväter gegen Solidarität unter den Jungen einzutauschen. Wir können viel aus Ihrer Erfahrung lernen, und möchten von einem Nahen Osten träumen, in dem alle Länder bereit sind, den Konflikt ihrer Eltern gegen den Frieden für ihre Nachkommen einzutauschen.

Wir möchten eine regionale moderne Wirtschaft aufbauen, um aktuellen Problemen, die uns allen gemeinsam sind, zu begegnen: Hunger, Verwüstung, Krankheit, Terror. Eine Zusammenarbeit bei wissenschaftlichen Projekten würde die Lebensqualität und den Lebensstandard aller verbessern.
Der uns allen gemeinsame Gott ist der Gott des Friedens. Nicht der Gott des Krieges.

Sehr verehrte Anwesende,

ich stehe heute vor Ihnen im Glauben, dass es in Ihrer und auch unserer Macht steht, den Lauf der Geschichte zu ändern. Ich glaube daran, dass der Frieden in Reichweite ist. Drohungen gegen Israel werden uns nicht von diesem Weg abbringen.

Ich stehe heute vor Ihnen als Sohn eines Volkes, das bereit ist, alles Menschenmögliche zu tun, um eine bessere Welt zu schaffen, in welcher der Mensch dem Menschen ein Mensch ist.

Der internationale Gedenktag für die Opfer der Shoa ist ein Tag der Andacht und des In-Sich-Gehens. Eine Stunde der Erziehung und der Hoffnung.

Ich habe mit dem Kaddisch-Gebet begonnen, und möchte mit unserer Nationalhymne, der „Hatikwa“ – der Hoffnung – schließen:

„Solange ist unsere Hoffnung nicht verloren,
die Hoffnung, 2000 Jahre alt,
zu sein ein freies Volk in unserem Land,
im Lande Zion und Jerusalem!“

Wir wagen den Traum, und ich bin überzeugt, Sie wagen ihn mit uns: Gemeinsam werden wir diesen Traum auch verwirklichen.“

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